Meine Geschichte, deine Geschichte, unsere Geschichte

Cristina Antonelli-Ngameni

Vom Gastarbeiterkind zur Weltbürgerin

Ankunft:

„Ich kenne die Situation der Menschen, die nach Europa kommen, und weiß, wie sie sich fühlen. Bei mir war es damals nichts anders. Man fühlt sich fremd, wenn man tatsächlich in einer Umgebung ist, die einem unbekannt ist. Das Gefühl „außen vor zu sein“ bleibt haften. Für eine ganze Weile. Als ich im Alter von acht Jahren nach Braunschweig kam, war alles anders als das, was ich kannte: die Atmosphäre, die Farben, die Geräusche und die Schrift auf den Schildern, die ich natürlich nicht lesen konnte. Es war, als hätte man plötzlich einen anderen Filter vor die Kamera getan. Ich hatte gleich so ein Bauchgefühl, dass es dumpf war.“

Übergänge:

Wenn ich nach Italien fahre, möchte ich auch dort als Mensch wahrgenommen werden, wie ich bin. Aber auch in meinem Heimatland falle ich auf, da ich einfache eine andere Färbung habe. Da gibt es eine Art von Pufferbereich, also eine gewisse Zeit, um erst einmal anzukommen. Da nehme ich viel wahr, dann schalte ich um und bin dann erst tatsächlich da. Das Gleiche erlebe ich auch, wenn ich aus Italien hierher zurückkomme. Man färbt sich unglaublich schnell wieder ein wie ein Chamäleon.“

Hin und Her:

„Lange hatte ich mit der Frage zu tun, ob ich der neuen Gesellschaft gerecht werde. Aber werde ich auch noch meiner Herkunftsgesellschaft gerecht? Das ist eine ziemliche breite und große Aufgabe, die mich ziemlich hin und her geschleudert hat. Dann kam viel später der Moment, dass ich keine Lust mehr hatte, mich weiterhin mit dieser Frage zu befassen: Ich bin einfach ich.“

Multikulti:

„Das Schlagwort war damals groß in Mode. Es gab eine neue Weltoffenheit und die Neugierde, andere Kulturen zu entdecken und sich von ihnen inspirieren zu lassen. Kurz: sich das Beste aus anderen Kulturen zu nehmen. Es ist das Beste, was man machen kann: sich aus verschiedenen Dingen einfach das Beste zu nehmen. Dann bin ich ein Weltbürger und losgelöst von der Herkunftskultur, die ich in mir habe.“

Identität:

„Das ‚Wo stehe ich?‘ braucht keinen Ort, kein Land, sondern ist an Menschen gebunden, an eine Art Stimmung, die man miteinander gestaltet und teilt. Das Gemeinsame gibt uns den Raum. Es ist ein Miteinander. Dieses Miteinander gab mir die Möglichkeiten, mich selbst anders zu erleben, und eröffnete andere Horizonte.“

Dirk Schlinkert

Der Geschichte(n)-Sammler aus der Provinz

„Heimat“:

„Wir Deutschen haben mit dem Begriff „Heimat“ große Schwierigkeiten. Denn er ist vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jhs. stark überfrachtet und mit einem extremen und gewalttätigen Nationalismus verbunden worden. Wir haben es schwer, uns davon frei zu machen, um ein weniger verkrampftes Verhältnis zur Heimat zu finden. Aber Heimat braucht jeder Mensch wie die Luft zum Atmen.“

 

Heimat(en):

„Das Sauerland ist eine meiner Heimaten, denn ich habe viele Erinnerungen daran. Mein Begriff von Heimat ist aber weit mehr. Ich bin ein Freund des Plurals – Heimat(en). Die Heimat ist wie ein Koffer, den man von Kindesbeinen an besitzt und in den man immer wieder etwas Neues reinpackt, wenn man mobil ist. Oft hat es mit Gefühlen zu tun. Heimat ist Herzenssache - individuell und persönlich. Es gibt also eine ungeheure Vielfalt von Heimaten, aus der sich eine Identität bildet. Ich vermute, dass der Kern dieser Identität im Laufe des Lebens immer härter wird. Einheimische wie Zuwanderer sollten mehr miteinander reden und zuhören. Das ist der Schlüssel, der den Bürgern in Deutschland Halt und Sicherheit geben kann und ihnen hilft, zu einer zivilen Identität zu kommen.“

 

Migration:

„Jeder Ortswechsel war eine gute Sache, auch wenn es natürlich Schwierigkeiten gab. Aber letztlich habe ich immer ungeheuer davon profitiert. Wenn man den Ort wechselt, nimmt man immer etwas mit. Was wir mitnehmen, ist ein Stück Heimat, auch wenn es nur Erinnerung oder gefühlte Erinnerungen sind.“

 

Erzählen und Zuhören:

„Ich habe viele Zeitzeugen-Interviews mit ehemaligen Zwangsarbeitern von Volkswagen geführt. In diesen Gesprächen wurde mir klar, warum ich Historiker geworden bin. Ich konnte ihnen in den Interviews helfen, ihre persönliche Geschichte zu finden und mit dieser Geschichte umzugehen, auch wenn es schwierig war. Am Ende hatten sie so etwas wie einen Deckel auf dieser Baustelle ihres Lebens und wir konnten sie mit ihrer eigenen Geschichte und unserer gemeinsamen Geschichte ein gutes Stück weit versöhnen.“

 

Migration in Geschichte:

„Die politische Brisanz von Migration in Deutschland und Europa entspricht in keinster Weise der Bedeutung, die Migration in den Geschichtsbüchern hat. Wo sind die Zuwanderer in unserer Erinnerungskultur? Warum treibt man Migrationsgeschichte meist ohne Migranten?“

 

Identität:

„Mit Fug und Recht halten manche „Identität“ für ein Plastikwort halten. Ich glaube aber, wir müssen uns als Bürger immer wieder neu darüber verständigen, was „Identität“ bedeutet. Meine eigene Identität verstehe ich viel besser, wenn ich zuhöre und hautnah erfahre, wie andere Menschen sich ihre Identität(en) basteln, verändern und lebenslang entwickeln. Die Zuwanderung setzt den Kern deutscher Identität unter immensen Druck: Sie verändert sich, weil sie sich verändern muss. Mit hohem Tempo. Aber Identitäten sind nicht leicht zu verändern und in Deutschland durch unsere besondere Geschichte besonders behäbig. Es braucht viel Druck und Energie, um sie zu verändern. Man sollte dann auch gleich die mitwirken lassen, die zugewandert sind. Denn die meisten Migranten sind hier, um zu bleiben. Sie können diesen Prozess unglaublich bereichern, wenn wir in Deutschland bürgerliche Identität(en) entwickeln wollen, die eine Einwanderungsgesellschaft tragen können.“

Miguel Ruiz

Der Gastarbeiter, der geblieben ist

… ist 64 Jahre alt und in Murcia im Südwesten Spaniens geboren. Seit dem 13. Juli 1973 ist er in Deutschland. Miguel Ruiz ist einer der letzten Gastarbeiter, die aus Spanien nach Deutschland kamen und ist geblieben. Erste Station: eine Konservenfabrik in Salzgitter- Ringelheim. Er hat zwei erwachsene Kinder, die beide in Deutschland geboren wurden.

 

Ankunft:

„Als ich mit 18 Jahren als Arbeitskraft in der Landwirtschaft in Frankreich war, war es ein großes Abenteuer. Es war leicht für mich, da ich die Sprache in der Schule gelernt hatte. Wir waren jung. Da hat man alles geschafft. In diesem kleinen Dorf traf man sich in einer Kneipe und, da ich die Sprache kannte, habe ich mich einfach dazugesetzt. Nach kurzer Zeit habe ich mit der Mannschaft dort Fußball gespielt. Das waren sehr nette Leute.“

Ankunft:

„Ich hatte immer gehofft, einen Arbeitsvertrag in Deutschland zu bekomme. Denn da konnte man gutes Geld verdienen. Mein Vater schickte ein Telegramm, als der Arbeitsvertrag aus Deutschland zuhause eingetroffen war. Es war einer der letzten Arbeitsverträge, die Deutschland mit Spanien geschlossen hatte. Im Juli fing mein Leben hier in Deutschland an. Die ersten Jahre waren schöne Jahre. Ich kannte niemanden und konnte kein Deutsch. Mein Arbeitgeber aber sprach gut Spanisch. Wir sind von Anfang an gut ausgekommen. Er mochte mich gern und hat mich oft nach Hause eingeladen. Die Zeit war sehr gut. Die Beziehungen zu den Deutschen in dem kleinen Dorf Ringelheim waren super. Viel lockerer als heute. Die Leute waren beschäftigt. Arbeitslosigkeit gab es in dem Dorf nicht. Heute hat sich leider vieles geändert.“

Abfahrt:

„Ich hatte den Arbeitsvertrag und wir mussten uns einer großen Untersuchung durch deutsche Ärzte unterziehen. Dann bekamen wir ein Zugticket und trafen uns in Madrid. Aus allen Ecken Spaniens. Es gab dort besondere Züge für die Gastarbeiter. Im Zug hatten viele Heimweh und Sehnsucht nach ihrer Familie. Da flossen auch einige Tränen. Wir kamen nach Köln und wurden von dort über ganz Deutschland verteilt. Jeder hatte ein Schild mit einer Nummer: die Postleitzahl des Ortes, wo er hinmusste. Die Postleitzahl konnte ich vorzeigen und der Fahrdienstleiter konnte mir sagen, wo ich aussteigen musste. Mit dieser Nummer bin ich sicher nach Ringelheim gekommen. Mein erster Gedanke: Wie soll ich hier zurechtkommen. Denn ich konnte kein Deutsch, nur Spanisch und Französisch. Zu meiner großen Überraschung stand mein Arbeitgeber am Bahngleis, holte mich ab und brachte mich zur Fabrik. 50 Leute konnten dort in Baracken schlafen. Es war ein normales Haus mit sechs Betten in einem Zimmer, gemeinsame Küche und Bad.“

Koffer:

„Im Koffer hatte ich auf jeden Fall keinen Mantel. Ich wusste nicht, dass es hier so kalt ist. Ich hatte ein Buch mit, was ich auch immer noch besitze: „Das Leben ist ein Traum“ von Calderon de la Barca. Das Buch hat mich überallhin begleitet. Außerdem hatte ich noch normale Klamotten mit, Unterhosen, Hemden. Ein Jugendbuch hatte ich noch dabei: „Wer die Nachtigall stört“ von Harper Lee. Von klein auf war ich eine Leseratte. In meinem Koffer war kein Platz für Fotos.“

Sprache:

„Einen ersten Sprachkurs habe ich belegt, als ich bereits zehn Jahre in Deutschland war. Alles, was wir zuvor gelernt hatten, kam von den Mitarbeitern, Nachbarn und Freunden in Ringelheim. Mein Chef hatte mir den Tipp gegeben, jeden Morgen eine Zeitung zu kaufen, auch wenn ich nichts verstand. Die Wörter, die du dann liest, kommen langsam. Ich würde jedem, der Deutsch lernen will, diesen Tipp geben. Für Sprachkurse hatten wir keine Zeit. Wichtig war damals, dass wir gesund und stark waren, um die Arbeit zu machen.“

Zuhause:

„Nach etwa 15 Jahren war hier in Braunschweig mein Zuhause. Ich hatte mir ein gutes, soziales Umfeld aufgebaut. Dazu braucht es Anerkennung, Geborgenheit und Freunde. In meiner Freizeit konnte ich alles tun, was mir Spaß machte. Besonders bei der Aktion „Café International“. Da war ich in meinem Element. Da konnten wir mit den Bürgern Braunschweigs diskutieren und ihnen erklären, warum wir hierhergekommen sind und ein Teil von Braunschweig sind, obwohl wir woanders geboren sind. Oder warum sind wir stolze Fans von Eintracht Braunschweig sind. Wir wollten den normalen Leuten klarmachen, dass wir ihre Nachbarn sind, die zwar aus einem anderen Land stammen, aber gern hier leben und möchten, dass sie unsere Nachbarn sind.“

Deutschland:

„Ich hätte mir gewünscht, gleich am Anfang die Sprache lernen zu können. Das ist sehr wichtig, um schnell mit den Leuten in Kontakt zu kommen und deutsche Freunde zu finden. Dann kann man sich auch besser eine eigene Meinung bilden. In Deutschland gibt es wunderbare Leute und ich bin besonders begeistert von der jungen Generation. Denn sie nehmen das Leben ernst. Das find ich super. Generell kann ich sagen: „Ich liebe dieses Land und ich liebe diese Leute!“ Ich weiß genau, wer ich hier bin und wo ich stehe. Meine Geschichte hat sich hier verwurzelt: Hier bin ich, hier werde ich auch bleiben.“

Mohtashim Bukhari

Sternenforscher und wildes Kind

Mohtashim wurde im März 1984 in Multan in Pakistan. Er ist der Ältester von drei Kindern und hat in Deutschland das Studium der Astrophysik mit einer Dissertation beendet.

 

Kindheit:

„Meine Schulzeit hat mir viel Spaß gemacht, da ich so viele Freiheiten hatte. Ich war wie ein wildes Kind und habe meine Lehrer oft geärgert. Das machte mir Spaß. Meine Eltern haben mir nie ihre Brille auf meine Nase gesetzt. Deshalb sehe ich die Welt auch anders als sie oder meine Geschwister.“

Ankunft:

„Ich bin nicht vor meinen Eltern weggelaufen, aber vor den Dingen, die dort waren. Meine Kindheit war vorbei. Was danach kam, gefiel mir nicht. So entschied ich mich, nach Leipzig zu gehen. Am Anfang hatte ich viele Probleme. Zum Glück lernte ich sehr gute Menschen hier kennen und habe mich wieder wie ein Kind gefühlt.“

Koffer:

„Warme Klamotten, scharfe Gewürze, Wörterbücher und Bilder von meiner Familie. Als ich in Leipzig ankam, habe ich mein Gepäck in einem Schließfach im Bahnhof eingeschlossen und mich auf Wohnungssuche begeben.“

Empfang:

„Mit sehr warmen Herzen und rotem Teppich. Mein bester Freund lebte mit seiner Familie in einem Dorf bei Leipzig. Er hat mir sehr geholfen in schlechten wie in guten Zeiten. Durch ihn und seine Familie bin ich schnell hier heimisch geworden. Keine Sekunde dachte ich an die Rückkehr.“

Empathie:

„Ich hatte bald das Gefühl, Weltbürger zu sein und gelernt, was es dafür braucht: Es sind die Menschen, Freunde, Kollegen und Familie. Die Leute haben mich akzeptiert, egal welche Kleidung ich trage oder was ich gegessen habe. Die Oma meines Freund wusste, dass ich gern scharf esse, und hat extra für mich die Gewürze besorgt. Sie wollte, dass ich mich bei ihr wie zuhause fühle. Wir sprachen nicht dieselbe Sprache, sie konnte kein Englisch und ich kein Deutsch. Das ist Empathie.“

Sprache:

„Ich habe Deutsch erst spät richtig gelernt. Die Kuschelphase an der Universität war vorbei. Ich wollte im akademischen Betrieb bleiben und brauchte die Sprache. Dennoch wurde ich nicht zum Lernen gezwungen. Ich wollte einfach nur Spaß haben. Wenn die Menschen zusammen am Tisch sitzen und einer einen Witz erzählt, lachen alle - nur ich nicht. Ich fühlte mich nicht als Teil ihrer Gemeinschaft. Um eine emotionale Verbindung entwickeln zu können und sich in die Gesellschaft erfolgreich zu integrieren, braucht man die Sprache.“

Zuhause:

„Mein Zuhause ist inzwischen hier. Wenn man ins Ausland reist, merkt man erst, wie schön es hier ist. Dieses Gefühl hatte ich auch, als ich meine Eltern in Pakistan besuchte. Als wir uns trennten, war ich ein wenig traurig, aber auf dem Flughafen in Frankfurt war ich so viel entspannter und fühlte mich wohl. Ich denke, dass es für mich vor allem die Menschen sind, die mir das Gefühl von Geborgenheit geben.“

Werte:

„Empathie, Gleichberechtigung und soziale Gerechtigkeit. Wenn ich fühlen kann, was du fühlst, wenn ich weiß, was du brauchst oder wovor du Angst hast, und ich dir dann zur Seite stehe und dich beschütze, dann siehst du in mir so etwas wie einen Bruder. Alles macht dann viel mehr Spaß. Wir haben alle die gleichen Gefühle, aber wir können uns gegenseitig andere Wege aufzeigen.“

Vertrauen:

„Wenn jemand neu nach Deutschland kommt, dann würde ich ihm den Rat geben: Vertraue den Menschen.“

Heimat:

„Meine Heimat ist da, wo ich mich geborgen fühle. Jetzt ist sie hier. Sollte ich diese Geborgenheit verlieren, werde ich das Land verlassen.“

 

Nazanin Zamani-Noor

Die Ärztin des Raps

Seit 2006 in Deutschland. Die promovierte Agrarwissenschaftlerin ist 41 Jahre alt und wurde im iranischen Schiras geboren. Sie arbeitet am Institut für Pflanzenschutz in Ackerbau und Grünland des Julius Kühn-Institut, Bundesforschungsinstitut für Kulturpflanzen in Braunschweig.

 

Ankunft:

„Als ich herkam, lebten bereits zwei Onkel hier. Sie waren nach der Revolution hergekommen. Deshalb habe ich Deutschland gewählt. Ich bin kurz vor der Revolution geboren wurden und kannte deswegen meine Onkels nicht. So war es doch wie ein Loch, als ich aufbrach. Man sitzt im Flugzeug und man weiß nicht, was in Zukunft passiert. Wen werde ich sehen, wen lerne ich kennen, wo soll ich hingehen und was soll ich hier machen? Ich hatte sonst in meinem Leben immer einen Plan. Aber im Flugzeug dachte ich: „Du hast keinen Plan“. Alles war so unbekannt und fremd. In Frankfurt traf ich dann meine Onkels und lernte sie kennen. Sie haben mich umarmt, und ich wusste: Ich habe meine Familie hier.“

Rolle der Frau:

„Im Iran müssen Frauen ein mehr kämpfen als Männer. Ich engagierte mich an der Universität in einer Gruppe für Frauenrechte und fand es immer schön, rauszugehen und als Frau mit anderen Frauen zu kämpfen. In Deutschland war es anders: Frauen haben hier fast die gleichen Rechte. Aber ich war auch Ausländerin. Als Ausländerin musste ich auch kämpfen, um genauso gut zu sein wie andere Deutsche. Vor allem bei der Arbeit. Ich konnte kaum Deutsch sprechen. Mein Studium und meine Promotion waren in Englisch. Es war alles international und deshalb habe ich kein Deutsch gelernt. Das ist ein großes Problem. Man kann einfach nichts machen.“

Koffer:

„Jeder Iraner bringt Gewürze mit. Mit meiner Mutter hatte ich alles gepackt und die Gewürze gekauft. Warme Klamotten. Denn alle erzählten, in Deutschland sei es sehr kalt ist. Außerdem ein paar Bücher, auch ein großes Wörterbuch für Persisch, Englisch und Deutsch. Das wog mindestens 10 Kilo. Da war der halbe Koffer voll. Auch meine Lieblingsbücher hatte ich mitgenommen: die Gedichte von Hafis. Mein Koffer war richtig voll. Beim Packen kam in den letzten Minuten meine Mutter mit zwei Tunfischdosen: „Nimm diese Dose mit!“. Da musste ich weinen, da so viel Druck auf mir lastete. Ich wollte die Dosen nicht. Meine Mutter war beleidigt und ich war beleidigt. Mein Vater versuchte, meine Mutter zu beruhigen: „Sie hat schon zu viele Sachen und in Frankfurt warten meine beiden Brüder. Sie braucht keinen Tunfisch!“ Was geschah? Als ich in Deutschland meinen Koffer auspackte, fand ich die beiden Tunfischdosen. Meine Mutter muss sie heimlich in meinen Koffer gesteckt haben. Eine Dose habe ich gegessen. Die andere habe ich noch heute. Sie ist ein Symbol für die Liebe meiner Mutter.“

Sprache:

„Es hätte mir sehr geholfen, wenn ich von Anfang an in der Lage gewesen wäre, mehr Deutsch zu  sprechen. Ich finde es echt schade, dass viele denken, Deutschland sei ein kaltes Land und die Leute mögen die Ausländer nicht. So ist es nicht. Sie sind ganz nett, freundlich und warm. Aber wenn man die Sprache nicht kennt, versteht man Vieles nicht. Die Deutschenfragen nicht oft nach deiner Persönlichkeit oder private Dinge. Da besteht eine klare Grenze. Wenn man aber die Sprache besser kann, kann man mitreden und dann verschwindet auf einmal die Distanz. Es dauert eben alles.“

Zuhause:

„Deutschland ist mein Zuhause, hier wohne ich, hier habe ich meinen Kreis von Familie, Freunde, Bekannten und Kollegen. Ich habe viele nette Leute kennengelernt. Jedes Jahr kehre ich in den Iran zurück und sage immer, dass ich heimfliege. Wenn ich dann wieder nach Deutschland fliege, komme ich zurück nach Hause.“

Heimat:

„Der Iran ist und bleibt meine Heimat. Ich mag mein Land, meine Kultur. Da bin ich geboren und aufgewachsen. Daran habe ich sehr gute Erinnerungen. Wenn ich dorthin fliege, bin ich immer happy. Aber ich bin auch immer happy, wenn ich nach Deutschland zurückkomme.“

Parvin Hemmecke-Otte

Die Landfrau mit den beiden Heimaten

Die 1959 im Südosten des Iran geborene Parvin Hemmecke-Otte lebt seit 1980 in Deutschland. Sie ist Vorsitzende des Kreisverbandes der Landfrauen in Braunschweig.

 

Heimat:

„Die Liebe war größer. So bin ich in Deutschland geblieben und habe geheiratet. Deutschland ist meine zweite Heimat geworden.“

Ankunft:

„Es war am Anfang nicht einfach. Ich kannte hier niemanden, nur die Familie meines Mannes, die mich mit offenen Armen empfangen hat. Keine Landsleute, keine deutschen Freunde. Deshalb war es eine sehr schwierige Zeit. Ich konnte noch kein Autofahren, Fahrradfahren kann ich immer noch nicht. So brauchte ich einige Zeit, um andere Menschen kennen zu lernen. Durch meine Schwiegermutter kam ich dann zu den Landfrauen Und bin sogar Kreisvorsitzende geworden. Da war ich als Iranerin wirklich in Deutschland angekommen.“

Sprache:

„Ich kam nach Deutschland, um zu studieren. Ohne Sprache. Ich konnte kein Wort Deutsch und kam in eine ganz andere Welt. Die Menschen waren ganz anders und es war sehr kalt. Alles war anders. Ich fand es ganz schlimm, dass ich beim Einkaufen kein Wort reden konnte. Wenn man die Sprache nicht spricht und nicht mit den Menschen kommunizieren kann, ist das wie in einem Gefängnis. Deswegen hatte ich mir ganz fest vorgenommen, die Sprache zu lernen - das ist das Wichtigste und der erste Schritt, den man in einem fremden Land machen sollte.“

Unterschiede:

„Als ich sah, dass sich ein junger Mann und eine junge Frau auf der Straße küssten, war es ein Kulturschock für mich. Das konnte ich nicht verstehen. Wie konnten sie das auf der Straße einfach tun? Für mich ist das nicht normal. Bis heute. Denn bei uns im Iran sind diese Sachen tabu. Das sind intime Sachen, die man nur Zuhause miteinander macht, aber nicht in der Öffentlichkeit.“

Koffer:

„Meine Lieblingsbücher, eine warme Strickjacke, Kräuter und alles, was braucht, um persisches Essen zu kochen. Ich dachte, das gibt es in Deutschland nicht. Außerdem hatte ich einen Gebetsteppich mit. Ich wollte unbedingt etwas mitnehmen wie einen Gebetsteppich - etwas, was mir Halt geben sollte.“

Freiheit:

„Es war ein großes Glück für mich, dass ich in Deutschland Freiheiten hatte, die ich im Iran nicht hatte. Es war etwas anderes. Unbeschwert. Man kann als Frau abends einfach auf die Straße gehen oder mit Freunden zusammen zu sein. Dieses Freisein war etwas sehr Besonderes.“

Helfer:

„Als ich ankam, gab es zwei Menschen, die mir besonders geholfen haben. Unsere Nachbarn, ein älteres Ehepaar, die wir später sogar „Oma“ und „Opa“ nannten. Die waren goldig. Denn sie haben uns immer so viel geholfen und uns die deutsche Kultur beigebracht. In der Weihnachtszeit haben wir zu Nikolaus bunte Teller von ihnen bekommen. Es war immer ein Geben und Nehmen. Es war toll, dass es so einen Kontakt gab. Denn das hilft unheimlich.“

Zwischen den Kulturen:

„Man muss zuerst die Sprache lernen und mit ihr die deutsche Kultur kennenlernen. Man muss einiges loslassen, aber nicht die Kultur loslassen. Wenn man zwischen zwei Kulturen lebt, dann muss man sie beide kombinieren. Dann hat man von beiden etwas und sich wohl und Zuhause. Für mich persönlich ist es wichtig, viele Freunde zu habe. Wenn ich in Braunschweig durch die Stadt gehe, fühle ich mich manchmal, als ob ich in meiner Geburtsstadt Kerman bin. Das ist mein Gefühl von Heimat.“

Heimaten:

„Ich habe zwei Heimaten, den Iran und Deutschland. Ich möchte beide Länder nicht missen. Dass ich nach Deutschland gekommen bin, hat mich ungeheuer bereichert und ich habe viel gelernt. Ich habe aber auch vieles von meiner Kultur hierher gebracht, vieles erst hier aufgenommen. Das gibt mir Kraft und das Heimatgefühl, das ich in Deutschland habe.“

Peter Doye

Der Sprachen-Lehrer und Weltenbürger aus Berlin in Braunschweig

Emeritierter Professor für Anglistik und ihre Didaktik der Technischen Universität Braunschweig, Jahrgang 1917. Der gebürtige Berliner wurde zum Globetrotter in Sachen Fremdsprachen.

 

Sprache:

„Die Sprache ist die Eintrittskarte in eine neue Kultur. Denn ich kann am Leben dieser neuen Gesellschaft keinen Anteil nehmen, wenn ich die Sprache dieses Landes nicht spreche. Der größte Brocken in der Integration ist der Sprachunterricht.“

Offenheit:

„Ich bin Fremdsprachenlehrer deswegen geworden, weil ich diese Offenheit einfach hatte. Für mich war es selbstverständlich, dass ich nicht nur eine Sprache vermittle, sondern mit der Sprache den Zugang zu anderen Kulturen verbinde. Ich wollte den jungen Menschen eine Offenheit kultureller und politischer Art beibringen.“

Neugier:

„Ich bin neugierig auf die Welt. Ich will wissen, wie andere ticken und denken. Bei Begegnungen mit Menschen anderer Herkunft versuche ich, auch an meine Bereicherung zu denken. Die sollen nicht nur etwas von mir haben, sondern ich auch von denen.“

Integration:

„Zwei Dinge: Dass die Menschen, die in dieses Land kommen, die kulturellen Normen im Denken, Verhalten und Empfinden zu einem großen Teil übernehmen müssen. Sonst können sie auf Dauer hier nicht landen und können auch keine Bereicherung für diese Gesellschaft sein. Ohne allerdings auf der anderen Seite die Beziehung zu ihrer heimischen Kultur zu kappen. Das liegt mir sehr am Herzen.“

Heimat:

„Berlin. Aber trotzdem fühle ich mich in Braunschweig wohl. Hier habe ich meine Freunde und fühle ich mich an dieser Universität wohl. Ich mag diese Stadt.“

Peter Larisch

Der Ur-Braunschweiger mit Doppelpass / Der Migrant für ein Jahr

Peter Larisch wurde in Santiago de Chile geboren. Als er knapp zwei Jahre alt war, kam er 1962 mit seinen Eltern mit dem Schiff nach Deutschland. Die Familie zog nach Braunschweig. Da hat er dann später auch Deutsch und Englisch studiert. Heute ist Larisch Seminarleiter eines Studienseminars in Salzgitter

 

Heimat:

„Ich lebe jetzt so viele Jahre in Braunschweig. Durch meine Freunde und meine Schule fühle ich mich sehr mit der Stadt verbunden, obwohl sie nicht so meine Heimat ist. Braunschweig ist der Ort, wo ich früh  hingekommen bin und mit dem ich mich sehr identifiziere. Trotzdem ist die Stadt irgendwie nicht der Ort, an dem meine Heimat ist.“

 

Ankunft:

„Ich war 1983 ein Jahr in Großbritannien als Austauschlehrer. Es war spannend, ein Konto zu eröffnen, ein Auto zu kaufen, allein zu leben, für sich selbst zu sorgen und eigenes Geld zu haben. Familie Carter hatte mir dort Unterschlupf gegeben und bei ihnen fühlte ich mich aufgehoben. Sie haben mir England erklärt.

Ich habe dort das ganze Jahr über in einem Wohnwagen im Garten gelebt. Für wenig Geld. Und ich konnte alles mitbenutzen und bei ihnen duschen und kochen.“

 

Migration:

„In England war ich ein Migrant für ein Jahr. In einem vertrauten Land Europas mit Familienanschluss. Vieles war dennoch so anders.“

 

Koffer:

„Meine Eltern halfen, meinen Koffer zu packen. Meine Mutter hat mir viele Sachen mitgegeben, und ich habe nicht widersprochen: Topflappen, Handtücher, als ob es das alles auf der Insel nicht gäbe. Sie haben mich ausgestattet, als hätte ich da einen ganzen Haushalt. Mehrere Koffer voll und dazu mein Fahrrad.“

 

Wendepunkt

„Das Jahr in England war das entscheidendste Jahr in meiner Biografie. Denn ich habe eine große Unabhängigkeit erfahren – wirtschaftlich wie auch gedanklich. Ich habe es sehr positiv erlebt, mich in dem anderen Land wohl zu fühlen, ja fühlte mich manchmal wohler, als dort wo ich herkomme. Das war ein ganz tiefer Einschnitt. Offenheit war damals wichtig für mich, die richtigen Haltungen sind entscheidend, ob es funktioniert oder nicht.“

 

Herkunft:

„Ich bin ein Lehrer mit Migrationserfahrung. Meine Eltern haben oft die Koffer gepackt. Sie waren sehr weltläufig. Das war für mich als Kind auch spürbar, wenn ich gefragt wurde, wo ich geboren bin. Ich musste natürlich deutlich machen, dass ich in Chile und nicht hier geboren bin. Das war für viele meiner Mitschüler schon ungewöhnlich. Denn ich sah ja überhaupt nicht eigenartig aus. Als junger Erwachsener mit 18 Jahren war es mir wichtig, auch die chilenische Staatsbürgerschaft zu haben. Deshalb sind wir zum Konsulat zu fahren. Auch ich wollte ein Dokument haben, dass diese Weltläufigkeit belegt. So hatte ich dann nicht eine, sondern zwei Staatsbürgerschaften.“

 

Wurzeln:

„Heute ist ganz klar: Ich habe nur eine Wurzel. Ich bin nie wieder in Chile gewesen. Es gibt von dem Ort, wo wir lebten, drei oder vier Fotos. Aber Chile ist als für mich konstitutiver Bestandteil nicht da. Eher emotional aber ist das ein Ort, der in die Tradition gehört und uns geprägt hat. Aber ansonsten bin ich Deutscher.“

 

Heimat:

„Mein Kraftelement ist die Sprache. Für mich war es immer schon sehr spannend, herauszubekommen, wie Sprache und Zeichen das Miteinander der Menschen bestimmen und dass Kommunikation nie eine Einbahnstraße ist. Die Sprache ist mein Zuhause, meine Heimat, auch wenn mir der Heimatbegriff ein wenig fremd ist.“

 

Ridwan Sartiono

Immer in der Minderheit

Ridwan Santorno (65) ist in Tangerang nahe bei Jakarta geboren, hat eine Tochter einen Sohn und drei Enkelkinder. Er verließ Indonesien im Februar 1972 und kam nach Deutschland, um Bauwesen zu studieren. Seine Stationen: Bad Arolsen bei Kassel, drei Monate in Hamburg und danach 13 Jahre in Berlin. Mit seiner Frau Anneli, die er 1978 heiratete, zog er 1986 nach Wedelheine bei Meine in Niedersachsen. Der promovierte Ingenieur für Bauinformatik und grafische Datenverarbeitung hat bei Volkswagen in der Forschung und Entwicklung als Systemanalytiker gearbeitet. Seit 1988 ist er deutscher Staatsbürger.

Freunde:

„Hier in Deutschland habe ich zwei bis drei Personen, denen ich voll vertrauen kann. Einer ist ein Deutscher, mit dem ich lange zusammengearbeitet habe und lange befreundet bin. Wenn mich etwas enttäuschte oder ich Probleme hatte, konnte ich es ihm jederzeit erzählen. Er hat mir immer Mut gegeben. Ich schätze an ihm, dass er niemanden im Stich lässt.“

Herkunft:

„Wir sind chinesischer Abstammung. Mein Ururgroßvater kam auch China und wir gehörten zu einer Minderheit in Indonesien. Hier in Deutschland bin ich Indonesier, in Indonesien war ich ein Chinese, o obwohl ich kein Chinesisch kann. Mittlerweile ist es in Indonesien demokratisch, dass es auch für die Chinesen gerecht und gut ist. Aber damals hatten sie noch richtige Probleme.“

Abschied:

„Bei meiner Vorbereitung für das Leben in Deutschland habe ich sogar einen Nähkurs in Indonesien besucht, damit ich wirklich auf alles vorbereitet bin. Ich wusste nicht, wie schwierig es werden könnte. Ich hatte keine Vorstellung, keine Erwartung. Meine Mutter wollte mir sogar einen Sack Reis mitgeben. Aber ich beruhigte sie und sagte ihr, dass ich schon nicht verhungern werde. Die Flugreise nach Deutschland fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Meinen Abschied feierte ich mit vielen Freunden. Aber ich hatte eine große Unsicherheit in mir. Ich habe mich gefühlt, als würde ich zum Mond fliegen. Ein richtiges Abenteuer. Für die Abreise ich hatte mich sogar richtig schick gemacht. Mit Schlips, Anzug und Locken durch einen Lockenwickler. Ich hatte aber ein komisches Gefühl, eine Mischung aus Freude und Trauer, weil ich meine geliebten Eltern verlassen musste.“

Koffer:

„Ich nahm viel Büromaterial, viele Hemden und Hosen, zwei Paar Schuhe, einen indonesischen, schwarzen Hut und eine Kulturtasche mit. Alles, was man so braucht. Das gab es hier zwar auch alles, aber das wusste ich ja nicht. Außerdem noch zwei Fotoalben mit Bildern von meinen Eltern, Geschwistern und Schulfreunden. Dazu Bücher, die mir auf dem Herzen lagen.“

Ankunft:

„Die ersten Tage waren erst einmal wie ein Schock. Es war kalt, es lag Schnee und die Menschen waren total anders. Es kam einem vor, als wäre ihnen vieles gleichgültig. Niemand grüßte mich, sodass ich dachte, mich würde niemand mögen. Doch mit der Zeit bemerkte ich, die Menschen waren hier nun einmal so. Das habe ich akzeptiert.

Integration:

„Man sollte seine eigene Kultur nicht ablegen. Man muss die Regeln beachten und die Pflichten wahrnehmen. Man muss respektieren, wie andere Leute leben, ohne eigene Verluste zu tragen. Integration bedeutet für mich, einfach miteinander zu leben.“

Deutschsein:

„Deutsche sind stur, korrekt und gründlich. Meine Frau sagt auch immer, ich sei typisch deutsch. Sauberkeit, Perfektionismus und das leistungsorientierte Arbeiten, das ist typisch deutsch. Ich würde auch sagen, dass das auch mittlerweile alles zu meinen Eigenschaften zählt. Das finde ich auch gut.“

Heimat:

„Heimat ist für mich da, wo ich mich wohl fühle, meine Freunde und meine Familie habe. Egal, welcher Ort. Deutschland ist zu meiner Heimat geworden. Wenn wir aus Indonesien zurückreisen und ich den deutschen Flughafen betrete, fühle ich mich wie zurück in meiner Heimat. Dieses Gefühl hat sich mit der Zeit entwickelt. Ich hatte zunächst Probleme mit den kulturellen Konventionen, doch irgendwann habe ich angefangen, einzusehen, dass es keinen Standard zum Leben gibt. Man lebt überall - nur anders! Das muss man akzeptieren und respektieren. Das kann man nicht lernen wie eine mathematische Formel. Da muss sich das richtige Bauchgefühl bilden.“